Es ist ein Trauerspiel – leider nicht nach griechischer Tradition, denn die hat nur eine Hauptszene oder ließe sich vielleicht mit Euromilliarden zum glücklichen Ende geleiten. Vielmehr reihen sich die Akte aneinander wie bei Fluch der Karibik.
Die Europäische Union erlebt in ihrer jungen Geschichte ihre tiefste Sinneskrise, deren Risse bereits tief bis nach Brüssel und Straßburg hineinreichen. Die jüngsten Ereignisse scheinen sich zu überschlagen, im Gleichschritt mit nationalistischen Gedanken- und Machtspielen. Ganz groß: die PIIGS (Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien. Belgien sollte ebenfalls dazugehören), mit ihren finanziellen Notständen. Rettungspaket um Rettungspaket wird geschnürt und die EU entgegen inbrünstiger Behauptungen zu einer Transferunion. Es gilt den Kollaps in der Eurozone abzuwenden. Und dennoch ziehen nicht alle am selben Strang zur Bekämpfung der größten Liquiditätskrise Europas. Vorneweg: Finnland und Tschechien. Irland auch, aber seitdem es ebenfalls am Eurotropf hängt, ist es zahmer geworden.
Ein Blick auf die Karte zeigt, das Gros der Mitgliedsstaaten wird von konservativen Regierungen vertreten. Deren Klientelpolitik beschränkt sich häufig nicht nur auf die bürgerliche Mitte, sondern macht meistens auch an den Landesgrenzen halt.
Ein europäisches Leitbild muss her, um jene Regierungen in einer Vision zu vereinen, wie es der damalige Traum vom Frieden vermochte. Dessen wohl schönste Frucht ist Schengen. Die Idee ist großartig und für die meisten Europäer eines der einschlägigsten Argumente für die EU. Seit Italiens hingeworfenem Diplomatenhandschuh vor die Füße Frankreichs steht das Abkommen in seiner jetzigen Form zur Disposition. Und Dänemark setzt einen Drauf, wenngleich aus anderem Kalkül. Nämlich wieder einmal Innenpolitik. Die sollte mitnichten etwas mit den übrigen 496 Millionen EU-Bürgern zu tun haben. Eine Wahl haben sie selbstverständlich nicht.
Teilweise zumindest. Die europäischen Parlamentswahlen erfreuen sich reger Nichtbeteiligung. Lediglich 43% folgten dem Ruf an die Urne 2009. Ein Armutszeugnis für die bürgerliche Anteilnahme. Wen wundert es also, dass so gut wie niemand den Parlamentspräsidenten Jerzy Buzek (Pole) kennt. Wie sollte man auch? Das Kompetenzgerangel innerhalb der EU überschattet die politische Arbeit. Catherine Ashton ist nicht nur blasser als John Doe (der englische Max Mustermann). Die lautstarken Unmutsbekundungen um ihre Person spitzen sich stetig zu einer offenen Rebellion zu. To be continued: Herman Van Rompuy.
Personalrochaden beschäftigen auch Staatenlenker. Der bevorstehende Abgang von EZB-Chef Jean-Claude Trichet löste einmal wieder Grabenkämpfe aus. Mario Draghi, just Nachfolger in spe, löste bei der Kanzlerin die German Angst aus, bis sie, aus Mangel an Alternativen, einknickte. Damit nicht genug. Gekämpft wird munter um ESFS, ESA, EIOPA, EBA, ESMA und ESRB*. Alles Neukreationen um die Finanzstabilität in Europa wiederherzustellen und zu wahren. Das ausgegebene Motto: die eigenen Landsfrauen und –männer bestmöglich positionieren. Und nun gesellt sich wahrscheinlich auch eine Vakanz für den Vorsitz des IWF-Direktoriums dazu. Na wunderbar. Der deutsche Fachkräftemangel ist dagegen ein Kinderspielplatz.
In Abkürzen sind die Europäer zumindest groß. Übrigens auch bei der Angleichung des europäischen Zahlungsverkehrs SEPA: eine 22-stellige Kontonummer symbolisiert die Einigkeit (womöglich sollte anfangs jede Stelle für ein Mitgliedsland stehen). Bei der Besetzung dieser Gremien sind sie dagegen weniger kreativ. Es gibt kein Miteinander, sondern Gefeilsche und Gerangel. Eine Währung, aber viele Interessen. Das Traurige daran, sie sind größtenteils machtpolitisch motiviert. Eine Harmonisierung von Wirtschafts- und Finanzpolitik, dem wohl effektivsten Stabilisierungsmechanismus, wird es in naher Zukunft nicht geben.
Gleiches gilt für die Außenpolitik. Deutscher Pseudo-Pazifismus steht eben immer noch über der Einheit Europas und lässt den Rest der Union im Sicherheitsrat dumm aus der Wäsche gucken. Auch bei einem türkischen EU-Beitritt ist Einigkeit Fehlanzeige. Im Fall Syrien kam es ausnahmsweise zu einer Übereinkunft – auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Gemeinsam gegen Menschenrechtsverletzungen kämpfen? Pustekuchen. Beim Umgang mit Passagierflugdaten und einer Datenweitergabe an die USA: Stillstand wegen Kompromissunfähigkeit.
Und dass nicht nur die Politik die Finger im Spiel hat um auf nationale Befindlichkeiten aufmerksam zu machen, demonstrieren Energie- und Automobillobbyisten vorbildlich. Ganz aktuell: die Stresstests für Atomkraftwerke. Weich wie Pasteten wenn es nach den Franzosen gehen soll und hart wie der Eisbeinknochen falls sich die Deutschen durchzusetzen vermögen. Das Geschacher um Subventionen ist ja mittlerweile ein alter und anerkannter Hut.
Die EU ist bisweilen fleißig bemüht, die Aussetzer ihrer Mitglieder zu bändigen. Frankreich konnte wegen der heftig umstrittenen Roma-Abschiebungen gerade noch ein Strafverfahren umgehen. Ungarn wird sich dem vermutlich nicht entziehen können. Trotz Ratspräsidentschaft hat Ungarn demonstriert, dass es wenig von den europäischen Rechten wie Meinungsfreiheit hält. Dass mittlerweile rechte Banden durch seine Dörfer ziehen und sogenannte Selbstjustiz an Sinti und Roma verüben, stellt den Tiefpunkt der anti-demokratischen Entwicklung in unseren Reihen dar. Jeder kocht sein eigenes Süppchen.
Womöglich handelt es sich bei dieser Aufzählung nur um den Parados, dem Eingangslied einer griechischen Tragödie. Doch ungeachtet aller Konflikte: Europa braucht die EU. Und besonders brauchen die Europäer die EU. Letztere muss es ihnen nur eindringlich begreifbar machen, denn nur so können sich die Bürger gegen die Kleinstaaterei ihrer Regierungen zu Wehr setzen, wenn wieder einmal ihre Rechte dem nationalen machtpolitischen Kalkül zum Opfer fallen. Das ist der einzige Weg, das einmalige Projekt einer Europäischen Union zu bewahren. Ein von Bürokraten getragenes System ist zum Scheitern verurteilt. Schließlich haben die Europäer bereits gezeigt, dass sie durchaus einig sein können. Im Eurovision Song Contest befanden sie mehrheitlich: die Schweizer waren au-dessous de la moyenne – unterdurchschnittlich.
* European System of Financial Supervision, European Supervisory Authorities, European Supervisory Authority (Insurance and Occupational Pensions), European Banking Authority, European Securities and Markets Authority und European Systemic Risk Board