Montag, 25. Oktober 2010

Fachkräftemangel: ungelöst. Bevölkerungsrückgang: akzeptiert. Nur demographische Veränderungen können die Probleme lösen.

Die Debatte schwelt nun schon seit einigen Monaten. Der Fachkräftemangel in Deutschland gehört neben S21 und Integration zu den angesagten Themen in den Polittalks. Bereits im Sommer haben Wirtschaftsminister Rainer Brüderle und der Chef der Agentur für Arbeit Frank-Jürgen Weise auf diesen Konflikt hingewiesen. Und es bleibt zu befürchten, dass es über Halloween hinaus ein Schreckgespenst bleiben wird. Denn konstruktive Lösungsansätze sind bisher nicht in Sicht.
Das kausale Problem ist, dass es mehr Arbeitsplätze als es Arbeitnehmer gibt. Oder genauer: es gibt mehr bestimmte Arbeitsplätze als es qualifizierte Arbeitnehmer gibt. Das ist nicht nur in Deutschlands Vorzeigeindustrie so. Die Wirtschaft ist auf bestem Wege sich nach ihrem leidlichen Fall aufgrund der Finanzkrise zu erholen. Die Himmel hoch jauchzenden Wachstumsprognosen lassen daran keinen Zweifel. Doch nun droht der Motor ins Stocken zu geraten, da Öl im Getriebe fehlt. Allein 2009 sollen der Volkswirtschaft 15 Mrd. Euro durch die Lappen gegangen sein, weil es an knapp 100.000 Fachkräften mangelte. Das Wachstum ließe sich also noch weiter beschleunigen, wenn die Ressource Arbeitskraft zur Verfügung stehen würden.
Die unter anderem von Seehofer geforderte Aktivierung von Arbeitslosen ist allerdings realitätsfernes Geschwätz. Zu glauben, dass der Mangel durch die Weiterbildung derer, die sich freiwillig oder unfreiwillig dem Arbeitsmarkt entziehen, beseitigt werden kann, ist illusorisch. Elf Prozent der Hartz IV-Empfänger befinden sich augenblicklich in einer so genannten arbeitsmarktpolitischen Maßnahme. Wären diese Maßnahmen zielgerichtet und erfolgreich, gäbe es keinen Fachkräftemangel. Darüber hinaus lassen sich eben nicht alle Arbeitslosen zu Facharbeiter umerziehen, sei es, weil sie es nicht möchten oder schlicht weg nicht können.
Es gilt mittlerweile als ausgemacht, dass dem Fachkräftemangel durch Einwanderung begegnet werden muss. Warum sich nun hochqualifizierte Arbeiter dazu entscheiden sollten, in Deutschland ihre Brötchen zu verdienen, ist ebenso unklar. Die Hürden sind immens, die Anreize vernachlässigbar und die Zukunftsaussichten und Bezahlung weniger rosig. Letztlich kann Einwanderung nur kurzweilig dazu dienen, die Symptome zu lindern.
Es scheint wieder einmal so, als ob die Regierung das Problem aussitzt. Und zwar bis zum Mai 2011. Dann gilt EU-weit die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Damit, so hofft die Koalition und befürchten die Handwerksbetriebe in Ostdeutschland, kann dem Fachkräftemangel entgegengewirkt werden. Dass bis dahin etwas konstruktives in der Legislative geschieht, bleibt zweifelhaft.
Die Krankheit, an der Deutschland leidet, ist demographischer Natur. Sie ist für den Fachkräftemangel verantwortlich und wird ihn in Zukunft kontinuierlich verschärfen. Diese Tatsache scheint allgemein paradoxerweise akzeptiert zu sein, als ob die Deutschen von Natur aus unfruchtbar sind. Dass dem Fachkräftemangel, wenn auch über einen langen zeitlichen Horizont, damit begegnet werden kann, die Geburtenrate zu steigern, findet dagegen keinen Platz in den Polittalks.
Die niedrige Rate von 1,4 Kindern pro Frau wird laut dem statistischen Bundesamt weiterhin Realität bleiben. Das bedeutet, dass sich die deutsche Bevölkerung bis 2050 auf lediglich 70 Millionen Menschen dezimiert hat.
Konservativ gerechnet, wird sich die Anzahl der Arbeitsplätze bis dahin stabil auf gleichem Niveau von heute befinden, da nach dem sogenannten Okun’schen Gesetz erst ab einem Wirtschaftswachstum von 3,3% neue Arbeitsplätze entstehen. Das bedeutet, dass die Knappheit am Arbeitsmarkt weiter zunehmen wird. Die Konsequenzen für die deutsche Wettbewerbsfähigkeit wären fatal.
Diese Dimensionen lassen sich nicht mehr aus Einwanderung bedienen. 10 Millionen Fachkräfte können auch ausländische Arbeitsmärkte nicht entbehren. Die Brisanz zukünftiger Integrationsdebatten kann man sich leicht vorstellen. Somit ist Deutschland dazu gezwungen, das Problem von innen heraus zu lösen. Das bedeutet, die Regierung muss bereits jetzt damit beginnen, zusätzliche Anreize zu schaffen, um Paaren das Kinderkriegen zu erleichtern. Die Verlängerung des Mutterschutzes von 14 auf 20 Wochen ist ein guter Anfang. Der Ausbau von Kita-Plätzen, unbürokratische Absicherung von Arbeitnehmern und eine grundlegende Änderung der Einstellung hin zu einer kinderfreundlichen Gesellschaft dienen dazu, das Kinderkriegen nicht mehr als Belastung anzusehen.
Die Regierung müsse das Rad nicht völlig neu erfinden. Beispiele für eine effektive Familienpolitik gibt es zu Genüge im Ausland. So können sich Eltern beispielsweise in Schweden 480 Tage bezahlten Urlaub nehmen um Zeit mit ihren Kindern zu verbringen – flexibel einsetzbar bis zum Erreichen des 8. Lebensjahres. In Frankreich kommen Mütter in den Genuss ganzheitlicher Mutter- und Kinderfürsorge die unter anderem Maßnahmen zur medizinischen, psychologischen und sozialen Prävention umfasst.
Darüber hinaus ließen sich mit einem gesunden Bevölkerungswachstum andere Problemfelder der deutschen Politik, wie zum Beispiel der unverhältnismäßig hohe Anteil von Rentenbeitragszahlern zu Rentenbeziehern, bewältigen.
Merkel und Co. müssen die Zeichen erkennen und endlich handeln. Der deutsche Bevölkerungsrückgang darf nicht hingenommen werden. Nur mit einer konstruktiven Familienpolitik kann der Fachkräftemangel nachhaltig beseitigt werden und Deutschland langfristig wettbewerbsfähig bleiben. Sollte die Politik sich dieser Aufgabe verweigern, bliebe den Firmen als einziger Ausweg der Umzug ins Ausland. Und über diese Tatsache können selbst monatelangen Debatten nicht hinwegtäuschen.

Sonntag, 10. Oktober 2010

Karsai’s Kuschelkurs mit den Taliban bringt NATO in ein Dilemma

Als ob die Situation in Afghanistan nicht schon kompliziert genug sei. Seit 2001 kämpfen die ISAF-Truppen gegen die Taliban und sind weit von einem militärischen Sieg entfernt. Dass dieser dennoch errungen werden kann, wird mehr und mehr bezweifelt. Und nun scheint Hamid Karsai weiter als jemals zuvor in Verhandlungen zwischen der Regierung und den Taliban zu stehen.
Somit steckt die NATO in einem Dilemma. Die vom Kommandeur der ISAF-Truppen David Petraeus entwickelte Strategie counter-insurgence sieht den schonungslosen Umgang mit den Taliban vor, vornehmlich deren Tötung. Sollte die NATO nun mit der gezielten Tötung hochrangiger Taliban fortfahren, könnte deren Verhandlungsbereitschaft drastisch sinken. Zwar befinden sich im Moment mehrheitlich gemäßigte Taliban in Gesprächen mit Karsai, sollten deren Stammesbrüder, die Paschtunen, zu denen auch Karsai zählt, jedoch weiter Ziel alliierter Attacken bleiben, könnte das die zaghaften Bemühungen zunichte machen.
Bereits seit 2008 soll es geheime Gespräche zwischen Regierung und Taliban geben. Gefruchtet sind diese bislang aber nicht. Auch Obama signalisierte 2009 Verhandlungsbereitschaft. Da die Taliban jedoch den Abzug der Streitkräfte zur Vorbedingung machten, blieben auch diese Bemühungen ergebnislos.
Die Einbeziehung einer Gruppierung, die von 1998 bis 2001 Afghanistan mit eiserner Hand regierte, Frauen den Zugang zu Bildung verweigerte, und Gesetze über den Rahmen der Scharia hinaus bestrafte, demonstriert, wie aussichtslos die NATO-Truppen ihre eigene Lage bewerten. Bereits im kommenden Jahr will Obama mit dem Truppenabzug beginnen. Doch das afghanische Militär und die Polizei sind bei weitem noch nicht bereit, Herr der Lage zu werden.
Auch der Druck in der Heimat wird weiter wachsen. Westliche Regierungen haben Schwierigkeiten ihren Wählern den Grund ihres Engagements in Afghanistan zu erklären. Nach dem Einmarsch der Truppen 2001 haben sie jedoch ein Land das nahe dem Bürgerkrieg steht, geschaffen. Die Alliierten müssen ihrer Verantwortung gegenüber dem afghanischem Volk gerecht werden und ihnen bei einem Abzug eine funktionierende Infrastruktur, eine stabile Regierung und Chancen auf Beteiligung am Welthandel hinterlassen.
Die Frage ist nun, wie man das schnellstmöglich erreichen kann. Ist Afghanistan selbst in der Lage, sich zu befrieden? Kann Karsai, dem unter anderem Korruption nachgesagt wird, die Lage entspannen, die Taliban entwaffnen und sie auf die derzeitige Verfassung einschwören? Und vor allem, kann der Westen darauf vertrauen?
Wenn die NATO es wagt ihre Mission counter-insurgence einzustellen und Karsai scheitert, wären die Taliban auf dem sicheren Weg, erneut die Macht zu ergreifen. Sollte Karsai Erfolg haben, könnten die Afghanen endlich selbst ihr Schicksal in die Hand nehmen und ihr Land würdevoll gestalten. Die NATO muss sich entscheiden. Auf beide Pferde kann sie nicht setzen. Doch wirklich bleibt ihr bei dem jetzigen Schlamassel ohnehin keine Wahl mehr. Vertrauen scheint der einzige Ausweg zu sein.

Schwarz-Gelb köpft ihren König (und outet sich als integrationsunwillig)

Knapp 100 Tage nach der Wahl von Christian Wulff zum Bundespräsidenten scheint sich zwar die Opposition an das Staatsoberhaupt gewöhnt zu haben, die Regierung tut sich allerdings schwer damit.
Anlässlich der Feier zum 20. Jahrestag der Wiedervereinigung hat die Rede Wulffs in Bremen vorerst Anerkennung geerntet. Die kam aber auffallend überwiegend aus dem rot-grünem Lager. Auch muslimische Verbände und der Zentralrat der Juden fanden anerkennende Worte. Die Rede sei mutig, so dessen Generalsekretär Kramer. SPD und Grüne forderten sogar eine Gleichstellung des Islams als Religionsgemeinschaft mit den abendländischen Religionen. Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime begrüßt diese Forderung. Und sie ist nicht weit hergeholt.
Muslime bilden nach den Christen (Anteil an der Bevölkerung ca. 60%) die zweitgrößte Religionsgemeinschaft in Deutschland (5%). Juden bilden mit einem Anteil von weniger als 1% eine der kleinsten anerkannten Religionsgemeinschaften. Und mittlerweile ist fast jedes zehnte in Deutschland geborene Kind von muslimischen Eltern. Rein quantitativ ist eine Gleichstellung also schon längst überfällig.
Es geht aber um mehr als Bevölkerungsanteile. Es geht um Ängste vor dem Fremden und der Entfremdung. Um Unwissenheit (Merkel assoziiert mit Scharia die brutale Rechtsprechung der Islamisten und sieht nicht dessen Gesamtheit einschließlich Werte und sozialer Normen, worauf selbst Gabriel, mit seinem oft unüberlegten Gepolter, hinweist) und Voreingenommenheit. Und es geht darum, der Gesellschaft Antworten zu geben. Antworten auf Fragen wie: Was ist eine deutsche Leitkultur? Integration oder Assimilation? Oder verkraftet es Deutschland sich endlich den Herausforderungen eines Einwanderungslandes zu stellen?
Auch Wulff stellt fest, dass wir uns schließlich zu einem solchen entwickelt haben. Alles andere sei eine „Lebenslüge“. Obwohl dessen Rede wenig Möglichkeiten zum Anecken bietet, hat sie das Format was einem Bundespräsidenten würdig ist.
Schwarz-Gelb sieht das offenbar anders. Ihr Präsident ist ihnen augenscheinlich zu tolerant. Und deshalb steht er unter Beschuss wie einst Horst Köhler, was letztendlich zu dessen Rücktritt führte. Lässt die Regierung nun mehr Respekt für das höchste Amt erkennen? Mitnichten.
Wenn Wulff sagt, „der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“ und ebenfalls betont, dass „Glaubens- und Gewissensfreiheit“ in Deutschland zu achten seien, wird Schwarz-Gelb nicht müde zu betonen, dass aus Religionsfreiheit nicht –gleichheit werden darf. Das Beharren auf die christlich-jüdische Tradition verweigert sich der Tatsache, dass traditionsbewusst nicht im Kontrast zu einer modernen Gesellschaft steht. Die Kirchen mussten bitterlich erfahren, was das bedeutet als sich die Gesellschaft säkularisierte. Merkel befürchtet ohne einen Widerspruch zu Wulffs Rede könnte ihre Partei das konservative Spektrum noch weiter vergraulen. Die Aufnahme Andersgläubiger in die Mitte unserer Gesellschaft bedeutet nicht die Aufgabe deutscher Werte und vor allem nicht die Verbannung des Grundgesetzes. Daran scheinen Merkel und Co. jedoch zu glauben. Und es sollte diese Glaubensfreiheit sein, die man ihnen absprechen sollte.
Denn sie verschließt die Augen vor den Tatsachen. Eine Gleichstellung als Religionsgemeinschaft würde nicht bedeuten, dass von nun an alle deutschen Frauen nur noch mit einer Burka in die Öffentlichkeit dürfen. Es würde bedeuten, dass wir unsere Mitbürger akzeptieren, anerkennen, dass auch sie eine Geschichte haben und wir auch von ihrer Kultur lernen können.
Die deutsche Leitkultur ist eine Illusion. Im alltäglichen Leben ist unsere Kultur nicht mehr von jener anderer westlicher Länder zu unterscheiden. Wenn Schwarzbrot und Talkshows, kein Tempolimit auf der Autobahn und das deutsche Reinheitsgebot unsere Leitkultur sind, dann stellt sich die Frage, warum man für solche Werte Millionen von Mitbürgern die Aufnahme in unsere Gesellschaft verweigert.
Die deutsche Leitkultur sollte vielmehr offen sein, Toleranz zeigen, denjenigen, die sich wünschen am öffentlichen Leben teilnehmen zu dürfen, die ausgestreckte Hand reichen und sich vor allem vom Bild des schächtenden, steinigenden und vollbärtigen Moslem verabschieden. Und auch ein „unverkrampfter Patriotismus“ gehört dazu, wie Christian Wulff betont. Denn nur „wer sein Land mag und achtet, kann besser auf andere zugehen“. Diesen Satz sollte auch die Regierung unterschreiben.